Das Shiva Samhita zählt, mit dem Hatha Yoga Pradipika und dem Gheranda Samhita und einigen anderen Werken, wie dem Goraksha Sataka die dem Lehrer Gorakshanatha oder seinen Schülern zugeschrieben werden, zu einem der bekanntesten Quellen des heutigen Hatha Yoga, und so wird dieses mittelalterliche Werk öfters auch in zeitgenössischen Büchern über Yoga zitiert.
Trotzdem es wohlbekannt ist bleiben doch viele Passagen schwer verständlich und geheimnisvoll und sind ohne Kommentar eines kompetenten Lehrers zum Teil verwirrend und missverständlich.
Auch im Hatha Yoga erfahrene Übersetzer und deren Kommentare scheitern an einigen der behandelten Themen und interpretieren oder übersetzen viele Passagen fehlerhaft. Obwohl es sich um einen Text handelt, der aus der Natha Tradition stammt, ist er synkretistisch und es werden darin, neben den üblichen Themen des Hatha Yoga, die schon in anderen Klassikern ausführlich erläutert worden sind, Yogawissen und Praktiken behandelt die aus weniger bekannten spirituellen Traditionen übernommen wurden, insbesondere aus der Dakshinamnaya (Tradition des Südlichen Angesichts) des Kaula Marga und dem Kevala Advaita von Adi Shankaracharya. Zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten werden viele Details dieser Traditionen nur beiläufig erklärt, weil der Autor Vorkenntnisse voraussetzt. Daher sind zusätzliche Informationen erforderlich, um diese Passagen im Kontext richtig zu verstehen. Ich werde in den Kommentaren näher darauf eingehen und die fehlenden Informationen nachliefern, soweit sie mir bekannt sind. 

 

śiva saṁhitā ||

ekaṃ jñānaṃ nityamādyantaśunnyaṃ nānyat kiñcidvatte te vastu satyam /yadbhedosminnindriyopādhinā vai jñānasyāyaṃ bhāsate nānnyathaiva||1||

 

Shiva Samhita

1. Das Erkennen (jnanam) ist einheitlich, ewig und ohne Anfang oder Ende, nichts außer diesem ist wahr. Was als Vielfalt um uns herum zu existieren scheint, ist nur durch die Erregung der Sinnesorgane bedingt, bringt man diese zum Erlöschen bleibt nur das Erkennen übrig und nichts anderes.

 

Die Welt kann man unterteilen in Das was erkannt wird (Prameya), den Vorgang oder die Mittel des Erkennens (Pramana) und dem Erkenner (Pramata). Diese drei Faktoren bedingen sich gegenseitig. Kein Teil des Vorganges kann ohne die Anderen bestehen.

In den „Shiva Sutras“ heißt es in Vers 2: Jnanam bandhah: Die Erkenntnis versklavt dich.

Im „Shiva Samhita“ hingegen heißt es das allein das Erkennen ewig und wahr (sat) ist. Wie ist dieser scheinbare Gegensatz zu erklären?

Hier wird von einer anderen Form der Erkenntnis oder des Wissens berichtet, die nur dem Namen nach gleich ist. Das Erkennen (Jnanam) ist nämlich auf zwei Arten möglich, auf eine dualistische und eine nicht dualistische, während die eine Art befreit, wird man durch die Andere versklavt.

Herkömmlicherweise ist unser Erkennen dualistisch, man unterscheidet zwischen Demjenigen der erkennt, dem Erkannten und den Mitteln des Erkennens und sieht diese als drei unabhängig voneinander existierende Faktoren an, durch die das Erkennen zustande kommt.
Der Prozess der Erkenntnis wird non dualistisch wenn einem bewusst wird das die Unterscheidung in die drei Faktoren nur dem Anschein nach besteht und es in Wahrheit keinen Unterschied zwischen dem Erkenner, dem Erkannten und den Mitteln des Erkennens gibt. Das was auf dualistische Weise, als unterschieden wahrgenommen wird sind eigentlich die drei Ausprägungen eines einheitlichen Erlebens.

Es lohnt sich dieses etwas genauer zu ergründen: Man nimmt es als gegeben an, dass Dinge unabhängig vom Erkenner oder dem Vorgang des Erkennens, für sich selbst bestehen. Vom absoluten Standpunkt aus gesehen ist dem nicht so.

Wenn es keinen einzigen Betrachter geben würde, ist plötzlich die ganze Realität und alles was uns umgibt, nur noch als Möglichkeit vorhanden, deren Existenz an das Erscheinen eines ersten Beobachters geknüpft ist. Die Welt ist daher eigentlich nur als Latenz vorhanden die sich nur dann manifestiert, wenn es jemanden gibt der etwas betrachten kann. Selbst die Vorstellung, dass die Welt ohne Betrachter nur als Latenz vorhanden ist, benötigt einen Betrachter der sich dieses Szenario ausmalt. Gänzlich ohne Betrachter erlöscht also in Wirklichkeit alles, selbst diese imaginäre Latenz.

Damit die Dinge voneinander unterscheidbar werden, muss dieser Beobachter in der Lage sein das Erlebte  zu vergleichen und einzuordnen, zb. als eine erstrebenswerte, unangenehme oder neutrale Erfahrung.

Selbstverständlich gilt dies auch für den Erkenner. Nur mit einem Objekt das sich von seinem Selbst, und sei es nur vermeintlich, unterscheidet und dadurch erkannt werden kann, entwickelt sich in ihm eine Vorstellung von einem individuellem Selbst. Ohne ein Objekt und den Vorgang des Erkennens, existiert auch unsere Vorstellung von einem Selbst nur als Möglichkeit.

In der Folge gilt: Ist die herkömmliche Vorstellung vom Erkenner nur eine Illusion, sind auch die Objekte, die erkannt werden können, nicht real. In dem Moment entdeckt man, dass es nichts Wirkliches und nachweißlich  Existierendes gibt außer der Erkenntnis selbst. Denn alles was es gibt erlangt erst durch den Vorgang des Erkennens eine illusionäre Form. Der Vers erklärt nun dass diese scheinbare Vielfalt der Außenwelt nur deshalb vor uns erscheint weil wir Informationen über die Sinnesorgane erhalten, diese vergleichen und dann klassifizieren. Wenn dieser Prozess durch die Praxis des Yoga beendet wird, verbleibt nur der Zustand der non dualen Erkenntnis, als einzige, wahre oder absolute Realität.

 

atha bhaktānurakto’haṃ vakti yogānuśāsanam / īśvaraḥ sarvabhūtānāmātmamuktipradāyakaḥ ||2||
tyaktvā vivādaśīlānāṃ mataṃ durjñānahetukam / ātmajnānāya bhūtānāmananyagaticetasām ||3||

2. Ich, Ishvara, werde nun, aus Zuneigung für meine Verehrer, eine Form des Yoga lehren die allen Wesen Erlösung schenken kann.
3.D
ie irreführenden Ansichten von Debattierenden werden von mir verworfen, um diejenigen zu fördern die Selbsterkenntnis durch ungeteilte Aufmerksamkeit erreichen möchten.

 

In diesen beiden Versen erklärt Shiva das er aus einen Akt der Zuneigung heraus, in der Form des Ishvara, allen Wesen die höhere Erkenntnis durch den Weg des Yoga eröffnen wird.

Shiva erläutert in dieser Schrift den Weg zur Befreiung (Mukti) durch Entwicklung von ungeteilter meditativer Aufmerksamkeit. Dieses bezieht sich auch auf die im vorigem Vers erwähnte Energie der Gnade, die zuerst als feine Vibration (kshobha) der Zuwendung zu seinen Verehrern im Herzen Shivas erscheint. Die Meditation über diese Shakti und ihre verschiedenen Manifestationen  wird im weiteren Verlauf des Shiva Samhita ausführlich gelehrt.

In den nun folgenden Versen werden einige der fruchtlosen spirituellen Bemühungen aufgezählt, und dann weil sie nicht zum endgültigen Ziel führen können, vom Autor verworfen.

Auch wenn sie wohltuende Folgen haben, können sie dennoch nicht die Verstrickungen und Illusionen auflösen sondern diese werden sogar noch vertieft, sie wirken abgrenzend und verstärken so die illusorischen Vorstellungen die wir von unserem Selbst und seinem Gegensatz zum Gegenüber haben.

In einem Vers werden die herrschenden Lehrmeinungen jeweils in Gegensätzen angeordnet. Es wird so aufgezeigt das die verschiedenen spirituellen Lehren sich oft diametral widersprechen und daher ihr Anspruch auf absolute Gültigkeit zweifelhaft ist.

Individualisiert man sich durch diese Wege und Bemühungen beginnt man mehr und mehr Prägungen (Samskaras) anzusammeln und die falsche Vorstellung von einer Persönlichkeit (Ahamkara) verfestigt sich so. Ob die Wirkungen der verschiedenen Religionen und spiritueller Praktiken nun gut und hilfreich oder vielleicht schlecht und schädigend sind, ist dabei nicht entscheidend.

Denn sowohl durch verdienstvolles Handlungen als auch durch das Ansammeln von Schuld betont man die Unterschiede des eigenen Selbstes zum Gegenüber. Der Weg des Yoga soll hingegen helfen zu der ursprünglichen Einheit von Erkenner, Erkanntem und Mittel der Erkenntnis zurückzufinden.  Eine Fixierung auf die Unterschiede zwischen Gut und Böse und ähnliche moralische Wertungen wie rein und unrein und die Einhaltung verschiedener Gebote, die dazu noch dem eigenen Urteil unterworfen und subjektiv sind, führen nicht zur erstrebten Freiheit. Im Shiva Samhita wird davon abgeraten diesen Handlungen zu grosse  Bedeutung beizumessen. Hingegen soll man sich vergegenwärtigen das die Konzepte von Gut und Böse Rein und Unrein nach dem  Eintreten der non dualen Erkenntnis ihre Gültigkeit verlieren und alles was von Lebenskraft beseelt ist von Natur aus rein ist. Das wird in Vers 33 und den folgenden Versen ausgeführt.

 

satyaṃ kecitpraśamsanti tapahaḥ śaucaṃ tathāpare / kṣamāṃ kecitpraśamsanti tathaiva samamārjjavam ||4||

 

4. Einige preisen die Wahrhaftigkeit, andere die Askese und Reinlichkeit, andere Gleichmut und Geduld.
 
Diese Lehren sind einseitig. Sie betonen entweder  die mentale Entwicklung durch Wahrhaftigkeit, oder die körperliche Entwicklung durch Askese und Reinlichkeit oder die emotionale Entwicklung,  durch Gleichmut und Geduld.
 
 
keciddānaṃ praśamsanti pitṛkarma tathāpare / kecitkarma praśamsanti kecidvairāgyamuttamam ||5||
 
5. Einige preisen Mildtätigkeit, andere die Verehrung der Ahnen. Einige preisen Tätigkeit und andere die Entsagung. 
    
      
kecidgṛhasthakarmāni praśamsanti vicakṣaṇāḥ / agnihotrādikaṃ karma tathā kecitparaṃ viduḥ||6||
 
6. Einige preisen die Einhaltung der Pflichten eines Haushälters und andere meinen das Feueropfer (der Asketen) ist das Wichtigste.   
 
 
mantrayogaṃ praśamsanti kecittīrthānusevanam / evaṃ bahūnupāyāmstu pravadanti hi muktaye||7||
 
7. Einige preisen das Mantrayoga und andere die Pilgerschaft zu heiligen Plätzen, so werden die unterschiedlichsten Wege benannt die zur Erlösung führen sollen. 
 
 
Mildtätigkeit sorgt sich um die diesseitige Welt, die Opfer an die Ahnen um die Jenseitige. Tätigkeit ist etwas Diesseitiges. Entsagung zielt auf das Jenseitige ab.   
Dann folgt der Vergleich zwischen dem Haushälter und dem Asketen. Einerseits gibt es die vielfältigen weltlichen Pflichten die man einhalten muss um einen Hausstand zu führen, als Gegenpol dazu die asketischen Pflichten, in erster Linie das Vollziehen des Feueropfers an die Götter.
Als nächstes werden die spirituelle Tätigkeiten, die passiv in der Einsamkeit praktiziert werden, wie das Mantra Yoga, einem aktivem Leben als Wandermönch (parivrājaka), der die heiligen Pilgerorte und alle Feste nacheinander zu besuchen hat, gegenübergestellt.
Der Autor deutet durch diese Vergleiche an das obwohl beides, weltliches und jenseitiges, introvertierte Besinnung und aktives Handeln zum Wohlergehen nötig ist, es unmöglich ist diese gegensätzlichen Pflichten zur selben Zeit zu erfüllen. Daher  sind Zweifel angebracht  ob eine dieser dualistischen Methoden erfolgreich zum Absoluten führen könnte. 
In den folgenden Versen 8 und 9 werden die Schwächen all dieser Methoden klargestellt, sie befreien nicht von Schuld und Verdienst und man verbleibt daher im Kreislauf der Geburten, den es durch Yoga ganz zu überwinden gilt.
 
evaṃ vyavasitā loke kṛtyākṛtyavido janāḥ / vyāmohameva gacchanti vimuktāḥ pāpakarmabhiḥ ||8||
 
8. Obwohl sie wissen was gute und schlechte Taten sind und sich frei von Schuld empfinden, sind sie doch Illusionen unterworfen.
 
 
etanmatāvalambī yo labdhvā  duritapunyake / bhramatītyavaśaḥ so’tra janmamṛtyuparamparām ||9||
 
9. Sie folgen den verschiedenen Lehren und sammeln so Schuld und Verdienst an und bleiben dadurch im  Kreislauf der Geburten gefangen.
 
 
anyairmatimatāṃ śresṭhairguptālokanatatparaiḥ / ātmāno bahavaḥ proktā nityāḥ sarvagatāstathā ||10||
 
10. Die besten unter denen die alle Geheimnisse ergründen wollen beschreiben das Selbst als vielzählig, ewig oder als all-durchdringend.
 
Da selbst die  hervorragendsten unter den Gelehrten sich in Ihren Aussagen über die wahre Natur des Selbstes widersprechen, sind derartige Analysen müssig und man sollte seine Zeit nicht damit verschwenden über Dinge nachzugrübeln die selbst Weise nicht schlüssig beantworten können. Dieser Gedankengang wird in den folgenden Versen weiter ausgeführt,  es wird gezeigt das sie, nicht nur über das Selbst, sondern auch über die Natur der Aussenwelt die unterschiedlichsten Meinungen haben
 
yaddyatpratyakṣaviṣayaṃ tadannyannāsti cakṣate / kutaḥ svargādayaḥ santīttyanye niścitamānasāḥ ||11||
 
11. Andere sagen das nur das wirklich besteht  was wir sehen können, und fragen „Wo befinden sich denn die höheren Welten?“
 

Jñāna pravāha ityanye śūnyaṃ kecitparam viduḥ / dvāveva tatvaṃ manyante’pare prakṛtipūruśau ||12||
 
12. Einige denken alles basiert auf der Leerheit, andere das alles nur eine Abfolge von Gedanken ist, noch andere das es zwei Grundlagen gibt aus denen alles besteht: Geist und  Substanz.
 
Die Materialisten (Charvaka) unter den Philosophen leugnen alle höheren Welten. Dann beschäftigt sich der Autor mit den Lehrmeinungen einiger  buddhistischer Schulen, Madhyamika und Yogacara und der  Samkhya Philosphie die sich in ihren Auffassungen über den Ursprung der Welt der Erscheinungen diametral unterscheiden.
 
Atyantabhinnamatayaḥ paramārthaparāṅmukhāḥ /evamanye tu sañcintya yathāmati yathāśrutam ||13||
 
13. So halten die Menschen an unterschiedlichen Meinungen fest und wenden sich von der absoluten Wahrheit ab.  
 
nirīśvaramidaṃ prāhuḥ seśvarañca  tathāpare vadanti vividhaibhedaiḥ  suyuktyā  sthitikātarāḥ ||14||
 

14. In dieser Welt gibt es einen Erschaffer, (Ishvara) oder diese Welt existiert ohne einen Erschaffer, so folgern sie, und beide belegen ihre jeweilige Meinung auf unwiderlegbare Argumenten die auf der Autorität der heiligen Schriften beruht.

 

Auch über die Frage der Existenz eines schöpferischen Gottes gibt es Streit. Warum also sollte man sich mit diesen Spekulationen belasten? Es trägt nur zur geistigen Verwirrung bei. Hingegen sollten man dem non dualistischem Weg des Yoga folgen, der nicht trennt, sondern vereint. Dieser Standpunkt wird in den folgenden Versen dargelegt.

 


 
   kathitā  hyete lokavyāmohakārakāḥ ||15||  śāstreṣu 
etadvivādaśīlānāṃ  mataṃ vaktuṃ  na śakyate / bhramantyasmiñjanāh sarve muktimārgabahiṣkṛtāḥ||16||
 
15. Diese und auch  verschiedenste andere Philosophen mit den unterschiedlichsten Lehren und Traditionen führen so den menschliche Geist in die Verwirrung. Es ist unmöglich alle verschiedenen Gesichtspunkte und Meinungen zu beschreiben die von den Menschen entwickelt wurden deren Anliegen es ist darüber zu streiten und zu debattieren. 16. Als Ergebniss davon irren sie durch die Welt  und entfernen  sich dabei immer weiter vom Weg zur Befreiung.  
 
|ālokya sarvaśāstrāṇi vicārya ca punaḥ punaḥ||idamekaṁ suniṣpannaṁ yogaśāstraṁ paraṁ matam ||17||
 
17. Nach der Untersuchung aller Schriften und derem ausgiebigem Studium stellt sich heraus das die  Yoga Schriften die hervoragendsten unter allen Traditionen sind.  
 
 
yasmin  jñāte sarvamidaṃ jñātaṃ  bhavati  niścitam / tasmin pariśramaḥ kāryaḥ kimanyacchāstrabhāṣitam /18/ yogaśāstramidaṁ gopyamasmābhiḥ paribhāṣitam || subhaktāya pradātavyaṁ trailokye ca mahātmane 19||
 
18. Durch diese wird  alles definitiv erklärt, man sollte sich daher sehr bemühen darin unterrichtet zu werden. 19. Die Yoga Schriften enthalten ein  grosse Geheimniss das nur denjenigen übermittelt wird die sich hingebungsvoll darum bemühen, Jene, die in allen drei Welten die Erhabensten sind. 
 
Im nächsten Abschnitt wird ausführlich erläutert das auch das Befolgen der moralischen Regeln und vedischen Pflichten nur temporären Nutzen bringt, hingegen soll der Yogi stattdessen den vedischen Anweisungen über die Erlangung von Erkenntnis mehr Gewicht zukommen lassen, diese aber durch die Yoga Praxis verwirklichen.
 
karmakāṇḍaṁ jñānakāṇḍamiti vedo dvidhā mataḥ ||bhavati dvidho bhedo jñanakaṇḍasya karmaṇaḥ ||20 ||dvibhidhaḥ karmakaṇḍaḥ syanniṣedhavidhipurvakaḥ ||niṣiddhakarmakaraṇe papaṁ bhavati niscitam ||vidhina karmakaraṇe puṇyaṁ bhavati niscitam ||21||

20. In den Veden unterscheidet man zwischen zwei Abteilungen, eine über die Handlungen und eine über die Erkenntnis. 21. Der Abschnitt über die Handlungen wiederum teilt sich auch in zwei Gruppen: die der Pflichten und die der Gebote. Wenn man Verbotenes ausführt ergibt sich Schuld während die Erfüllung der Pflichten Verdienst ergibt.
 
trividho vidhikūṭaḥ syānnityanaimittakāmyataḥ ||nitye'kṛte kilviṣaṁ syātkāmye naimittike phalam ||22|| dvibhidhantu phalaṁ jñeyaṁ svargo naraka eva ca ||svargo nānāvidhascaiva narakopi tathā bhavet ||23|| puṇyakarmāṇi vai svargo narakaḥ pāpakarmāṇi ||karmabaṁdhamayī sṛṣṭirnānyathā bhavati  ||24||


22. Man unterscheidet zwischen drei Arten der Pflichten, den obligatorischen, gelegentlichen und freiwilligen. Werden obligatorische Pflichten verletzt entsteht einzig Schuld, anders ist es bei gelegentlichen und freiwilligen Pflichten hier entsteht Schuld sowohl als auch Verdienst. 23. Das Ergebniss dieser Ansammlungen (von Schuld und Verdienst) ist dualistisch: entweder es führt in die Unterwelten oder in die höhere Welten. Die höheren Welten haben viele Variationen, genauso wie die Unterwelten. 23. Verdienstvolle Taten führen in die höheren Welten, verwerfliche in die Unterwelten. Alles was es gibt entsteht zwingend durch unsere Taten und ihre Resultate, daran gibt es keinen Zweifel.

 

jantubhiścānubhūyaṁte svarge nānāsukhāni ca ||nānāvidhāni duḥkhāni narake duḥsahānivai||25||pāpakarmavaśādduḥkhaṁ puṇyakarmavaśātsukham||tasmātsukhārthī vividhaṁ puṇyaṁ prakurute dhruvam ||26||


25. In den höheren Welten erleben die Wesen unterschiedlichste Freuden, in den Unterwelten unerträgliches Leid. 26. Durch verwerfliche Taten ergibt sich Leiden, durch verdienstvolle Freude. Daher sollten alle die nach Glück streben verdienstvoll handeln.

 

pāpabhogavasāne tu punarjanma bhavetkhalu ||puṇyabhogavasāne tu nānyathā bhavati dhruvam ||27||svarge'pi duḥkhasaṁbhoga parastrīdarśanādiṣu ||tato duḥkhamidaṁ sarvaṁ bhavennastyatra saṁśayaḥ ||28|| tatkarmakalpakaiḥ proktaṁ puṇyaṁ pāpamiti dvidhā ||puṇyapāpamayobandho dehināṁ bhavati kramāt||29||


27. Wenn die Folgen der verwerflichen Taten ausgelebt sind kommt es sicherlich erneut zu Wiedergeburten. Wenn die Früchte des Verdienstes aufgebraucht sind, führt auch das zweifellos zum selben Ergebnis. 28. Selbst in den höheren Welten kommt es zu Leid, so z.b. wenn man die Frau eines anderen begehrt wenn man sie erblickt. Es gibt keinen Zweifel daran: das ganze Universum ist mit Leid erfüllt. 29. Die Gelehrten haben die Taten (das Karma) in zwei Arten aufgeteilt in glücksverheißendes und Unglück bringendes und beide Resultate sind Fesseln, jedes der Resultate ist gleichermaßen die Ursache, für die verkörperten Wesen, erneut in den Zyklus der Wiedergeburten einzutreten.

 

 ihāmutra phaladveṣī saphalaṁ karma saṁtyajyet ||nityanaimittikaṁ sajñaṁ tvaktvā yoge pravartate||30|| 


30. Diejenigen die nicht die Früchte ihrer Taten genießen wollen, in dieser oder einer höheren Welt, sollten daher jede Hoffnung auf Belohnung aufgeben, und in dieser Weise ihre Anhaftung an die obligatorischen und gelegentlichen Pflichten aufgeben und stattdessen mit der Lehre des Yoga beginnen.


karmakāṇḍasya māhātmyaṁ jñātvā yogī tyajetsudhīḥ ||puṇyapāpadvayaṁ tvaktvā jñānakāṇḍe pravartate||31|| 


31. Nachdem er den Nutzen der vedischen Vorschriften erkannt hat sollte der weise Yogi sie verwerfen und beidem entsagen, dem Verdienst sowohl als auch der Schuld und sich stattdessem dem Weg der Erkenntnis, durch die Lehren des Yoga, widmen.

 

 ātmā vā're ca śrotavyomantavya iti yacchati||sā sevyā tatprayatnena muktidā hetudāyinī|| 32|| 

 

32. Wenn in den Veden davon gesprochen wird das das Selbst (atma) erkannt werden soll sollte man das mit großer Hingabe verfolgen denn es bewirkt die wahre Befreiung und die Erkenntnis der absoluten Wahrheit.

               duriteṣu ca puṇyeṣu yo dhīrvṛttiṁ pracodayāt ||so'haṁ pravartate matto jagatsarvaṁ carācaram| 33||sarvaṁ ca dṛśyate mattaḥ sarvaṁ ca mayī līyate ||na tadbhinno'hamasmīha madbhinno na tu kiṁcana || 34||jalapūrṇeṣvasaṁkhyeṣu śarāveṣu yathā bhavet|| ekasya bhātyasaṁkhyatvaṁ tadvedo'tra na dṛśyate |35||upādhiṣu śarāveṣu yā saṁkhyā vartate parā ||sā saṁkhyā bhavati yathā ravau cātmani tattathā |36||

 

33. Denn ich bin das Bewusstsein das die Welt der Erfahrungen aufteilt in das was verdienstvoll oder verwerflich ist. 34. Dieses ganze Universum, sowohl das bewegliche (lebendige) als auch das unbewegliche (die leblosen Dinge) entsteht durch das Selbst und kommt im Selbst wieder zur Ruhe.  Ich unterscheide mich nicht von anderen und nichts in dieser Welt unterscheidet sich von mir. 35. Gleich wie die Sonne sich  in unzähligen Wasserschalen widerspiegelt  aber die Ursache ist nur eine Sonne, entsteht die Vielfalt. 36. So wie die Sonne so oft erscheint wie es Schalen gibt, erscheinen die vielen unterschiedlichen Wesen, aber die sie belebende Kraft ist eine.

 

yathaikaḥ kalpakaḥ svapne nānāvidhitayeṣyate ||jāgarepi tathāpyekastathaivabahudhā jagat||37||

 

36. Wie ein Träumer im Traum aus sich heraus alles mögliche durch seine Vorstellung erzeugt und nach dem Erwachen bleibt nur einer zurück so verhält es sich auch mit dem Universum, es scheint nur aus vielen Objekten zu bestehen.

 

sarpabuddhiryathā rajau śuktau vārajatabhramaḥ ||38||tadvadevamidaṁ viśvaṁ vivṛtaṁ paramātmani ||rajjujñānādyathā sarpo mithyārūponivartate ||39||ātmajñānāttathā yāti mithyābhūtamidaṁ jagat||raupyabhrāntiriyaṁ yāti śuktijñānādyathā khalu ||40||jagadbhrāntiriyaṁ yāti cātmajñānātsadā tathā ||yathārajjūgabhrāntirbhavedbhedavaśājagat ||41||tathā jagadidaṁ bhrāṁtirabhyāsakalpanā jagat||

 

38. Wie durch eine Sinnestäuschung ein Seil wie eine Schlange erscheinen kann oder Perlmutt anscheinend wie Silber glänzt, 39. so ist diese ganze Universum eine Projektion des transzendenten Selbst (Paramatman) wenn man erkennt das es sich um ein Seil handelt so verschwindet die Illusion einer Schlange, in gleicher Weise verschwindet die Illusion dieser Welt wenn die Selbsterkenntnis erwacht. 40. Genauso wie die Illusion eines Silberstücks verschwindet wenn man erkennt das es eine Muschel ist, gleichermaßen verschwindet durch Selbsterkenntnis die illusionäre Welt. 41. Genauso als wie wenn man eine giftige Schminke an den Augen verwendet, und als Folge davon ein Bambus wie eine Schlange erscheint, genauso erscheint durch den Farbstoff der Gewohnheit (abhyasa) und Vorstellungskraft (kalpana) die ganze Welt.

 

ātmajñānādyathā nāsti rajjujñānādbhujaṅgamaḥ ||42||yathā doṣavaśācchuklaḥ pīto bhavati nānyathā ||ajñānadoṣādātmāpi jagadbhavati dustyajam ||43||doṣanāśe yathā śuklau gṛhyate rogiṇā svayam ||śuklajñānāttathā'jñānanāśādātmā tathā kṛtaḥ || 44||

 

Das Wissen um das Seil lässt die Schlange verschwinden, 42. so geht es uns auch mit allen anderen Illusionen, wenn das eine Selbst erkannt wird. 43. Hat man durch Krankheit gelb getrübte Augen erscheint alles weiße vor Augen vergilbt, auf vergleichbare Weise entsteht die Welt nur virtuell, projiziert auf das transzendente Selbst, eine Illusion die schwer zu überwinden ist 44.  Wenn die gelbe Verfärbung im Auge geheilt ist erscheint dem Patienten weiß wieder als weiß, so geschieht es mit uns auch wenn die Illusion der Unwissenheit zerstört wird und die wahre Natur des einzigen Selbstes erblickt wird.

 

kālatrayepi na yathā rajjuḥ sarpo bhavediti||tathātmā na bhavedviśvaṁ guṇātīto nirañjanaḥ|| 45||

45. So wie aus einem Seil in allen drei Zeiten (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) niemals eine echte Schlange werden kann genauso kann das makellose (absolute) Selbst, frei von aller Wandlung, niemals wirklich zur Welt werden.

 

Diese Verse zeigen den starken Einfluss des Kevala Advaita, alle Erfahrungen existieren virtuell sind bloße Projektionen und es gibt keinerlei wirkende Ursachen für die Welt, während das ungeborene, unveränderliche, Absolute lediglich als Projektionsfläche für die Illusionen dient und in keinster Weise mit diesen Erscheinungen verbunden ist.  Diese Auffassungen stehen im Gegensatz zu den meisten anderen Yoga Traditionen. Dort wird entweder eine der Welt zugrundeliegende Substanz angenommen, wie im Fall von Patanjalis Samkhya Yoga, selbst wenn  die Welt als illusionär aufgefasst wird, wie bei den Nath Siddha so ist sie zwar anders als wir es wahrnehmen, die Illusion der Vielfalt ist in wirklichkeit die non duale Gottheit, aber trotz unserer irrtümlichen Auffasssung über ihre Natur doch real.

 

āgamā'pāyino'nityānāśyatveneśvarādayaḥ ||ātmabodhena kenāpi śāstrādetadviniścitam||46||


46. Die Gelehrten die gut bewandert sind in den Schriften und Selbsterkenntnis besitzen bestätigen uns das selbst die Götter nicht ewig bestehen und auch irgendwann dem Ende entgegensehen.

 

 

yathā vātavaśātsindhāvutpannāḥ phenabudbudāḥ ||tathātmani samudbhūtaṁ saṁsāraṁ kṣaṇabhaṁguram ||47||

47. Wie eine Blase im Meer aufsteigt nur durch einen Windstoss geformt, in dieser Weise taucht auch dieses, der Zeit unterworfene vergängliche Weltenrad der Wiedergeburt (samsara), innerhalb des Selbst auf.

 

 

abhedo bhāsate nityaṁ vastubhedo nabhāsate || dvidhā tridhādibhedo'yaṁ bharamatve paryavasyati ||48||yadbhūtaṁ yacca bhāvyaṁ vaimūrtāmūrtaṁ tathaiva ca ||sarvameva jagadidaṁ vivṛtaṁ paramātmani ||49||

 

48. Das Nonduale ist immerwährend, das Dualistische ist vergänglich. Alle Unterscheidungen in zweifach, dreifach, und vielfältig die im Verlauf der Zeit entstehen, sind nur eine Täuschung. 49. Was auch immer es ist, ob geformt oder formlos, es existiert nur virtuell, projeziert auf das Selbst.

 

kalpakaiḥ kalpitā vidyā mithyā jātā mṛṣātmikā ||etanmūlaṁ jagadidaṁ kathaṁ satyaṁ bhaviṣyati ||50||

50. Die Ursache des Universums ist Unwissenheit und Einbildungskraft, wie kann es dann selbst als real bezeichnet werden wenn doch sein Ursprung unwirklich ist?


 

caitanyātsarvamutpannaṁ jagadeccarācaram ||tasmātsarvaṁ parityajya caitanyaṁ taṁ samāśrayet || 51||

 

51. Das ganze Universum ist aus dem Bewusstsein entstanden deshalb sollte man auch nur bei dem Bewusstsein allein Zuflucht suchen.

 

ghaṭasyābhyaṁtare bāhye yathākāśaṁ pravartate|tathātmābhyaṁtare bāhye brahmāṇḍasya pravartate || 52||

52. Wie der Raum sowohl innerhalb eines Kruges als auch ausserhalb davon vorhanden ist, so erfüllt auch das eine Selbst das sich wandelnde Universum.